Beatrice Voigt Kunst und Kulturprojekte & Edition
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Zeichen von fern – wenn Kunst und Wissenschaft sich begegnen

Black Moving Iceberg war das Titelbild der zweiten Ausstellung mit Arbeiten von Ulrich Gehret, die ich in meiner Münchener Galerie 1991 zeigte. Der Schöpfer dieser Arbeit ist Künstler, Forscher und Kosmopolit. Sein Stil ist unverkennbar und ebenso virtuos wie die Wahl und der Umgang mit Materialien.

Im Sommer 1988 besuchte ich Ulrich Gehret im Umland von Malaga an seinem damaligen Wohnort und Atelier. Ich hatte den Künstler, der freie Malerei in Berlin und Hamburg studiert hatte, kurz vorher kennengelernt und war beeindruckt von der Intensität seiner persönlichen Präsenz, von seinen Gedankengängen. Es waren lediglich Fotos seiner Bilder, die meine Intuition weckten – ich spürte, dass hier etwas Neues entsteht – eine Art ökopoetischer Kunstsprache. Ich beschloss nach Spanien zu reisen und die Kunstwerke im Original zu betrachten.

Da war ich nun also – soeben noch der flirrenden Hitze der südspanischen Sonne ausgesetzt fand ich mich in einem schattigen tiefen Atelierraum wieder, der mir wie ein geheimnisvoller, klösterlich gestimmter Ort aus einer anderen Welt erschien. Inmitten der schroffen Felslandschaft Andalusiens in der stillen Zurückgezogenheit seines Ateliers schuf dieser Künstler neue Bildwelten – „Visuelle Notizen“ – Bilder wie ich sie noch nie gesehen hatte.

Gehret ist Einsiedler und Weltreisender zugleich – er taucht ein in Natur und Kultur zu Land und zu Wasser, wo immer er sich gerade aufhält. Er bereiste viele Länder in Südamerika, arbeitete in Mexiko, Trinidad und Tobago. Er wagte sich aufs Meer mit einem Boot – allein, beobachtete die Lebens- und Bewegungsformen von Walen in Patagonien in der Hoffnung, einen Wal einmal zu berühren und zu streicheln. Es ist ihm gelungen. Anders als Captain Ahab in Melville’s Moby Dick empfindet er Empathie und Achtung für andere Lebewesen, deren Relikte wie Häute, Knochen oder Schuppen er zuweilen in seine zwei- und dreidimensionalen Arbeiten integriert. Skripturale Elemente durchweben zugleich figurativ und abstrakt anmutende Kompositionen, die schemenhafte Erinnerungsräume mit realer Gegenwart und ahnungsvollen Metaphern verbinden.

Aus der gemeinsamen Bildbetrachtung entwickelten sich lange Gespräche über Begriffe wie Inhalt und Form, Intellekt und Emotion, statische und dynamische Elemente, kraftvolle Gesten und filigrane Zeichen. Wir stellten Fragen zum Objektiven im Subjektiven und vice versa, spielten gedanklich mit Gehret’s geradezu dadaistisch konstruierten Wortschöpfungen und fantasievollen Narrationen.

„Hier und jetzt oder dann habe ich Individuum, Ulrich Gehret, als Ausdruck meiner momentanen Empfindung und reagierend auf diese oder jede Begebenheit, protestierend gegen jenen ungerechten Zustand oder irrsinnig erfreut über Anzeichen ursprünglicher menschlicher Sympathie ein emotionales Diagramm konstruiert, in dem ihr mit einiger Gedankenanstrengung und Offenheit euch wiederfinden könntet…“

Während der Vorbereitung der Buchvorstellung Vom Werden  Entwicklungsdynamik in Natur und Gesellschaft  im September 2019 verfolgte ich von fern mit großem Interesse die Vorbereitungen der ARKTIS-Expedition 2019/20 des Forschungsschiffs Polarstern zur Erkundung des Klimageschehens im „Epizentrum der globalen Erwärmung“. Damit war ein exzellentes aktuelles Beispiel gegeben, komplexe dynamische Prozesse, Wechselwirkungen und Rückkopplungen im Beziehungsgefüge der Erdsphären aufzuzeigen.

Was ist die Kryosphäre und welche Bedeutung hat sie? Warum ist sie für das Erreichen der Klimaziele so wichtig? Die Wirkungen des Eises sind weitreichend und vielfältig, auch der Strahlungshaushalt der Erde hängt mit den Erscheinungsformen von Eis zusammen. Es beeinflusst die Strömungen der Meere, das Wetter und das Klima der Erde. Spuren menschlicher Aktivität und Auswirkungen auf das Klima sind lesbar; entsprechende biologische sowie biochemische Signaturen wurden in Sedimenten und Eisbohrkernen entdeckt und erforscht.

Antarktischer Eisbohrkern in polarisiertem Licht
Foto: Sepp Kipfstuhl/AWI, Archiv des Alfred Wegener Instituts/Wikimedia Commons

So wurden Ablagerungen von Materialien wie Aluminium, Plastik, Zement bis hin zu radioaktivem Abfall durch stratigraphische Untersuchungen nachgewiesen. Die Geschwindigkeit des menschenbeeinflussten Klimawandels mit Auswirkungen wie dem Anstieg des Meeresspiegels übersteigt die Entwicklungen der vorangegangenen 11.000 Jahre des Holozäns und aller früheren Epochen!

Im gleichen Atemzug mit der Betrachtung wissenschaftlicher Fakten und Zusammenhänge kam mir ein anderes „Zeichen von fern“ in den Sinn. Ich erinnerte mich an das eingangs vorgestellte Kunstwerk, das mit dem Thema der Arktis-Expedition und der Symposiums-Dokumentation Vom Werden  direkt verknüpft ist.

So ereignete sich am 26. September 2019 im Vortragssaal der Botanischen Staatssammlung München eine imaginäre Begegnung der Polarstern mit dem Black Moving Iceberg –eine Begegnung die vielschichtige Betrachtungen zu Wechselwirkungen von Eisvorkommen und Weltklima freisetzt. Es ist ein Kunstwerk, hervorgegangen aus der künstlerischen Intention etwas mitzuteilen aus dem zum Bild gewordenen Zwiegespräch des Künstlers mit der Umwelt und seiner Innenwelt. 1989 entstanden, erscheint Gehret’s Black Moving Iceberg 30 (!) Jahre später im Assoziationsfeld des globalen Klimawandels und eröffnet einen überraschend anderen, künstlerischen Zugang zu einem hochvirulenten Problemfeld der Gegenwart.

Die Verknüpfung der Disziplinen erweitert den Wahrnehmungs- und Assoziationsraum, erzeugt einen Moment des Innehaltens und wirft im vorliegenden Zusammenhang vielleicht Fragen nach der Herkunft des schwarzen „Kleids“ des driftenden Eisbergs auf. Ist das Bild ein Produkt der Fantasie oder gibt es den Eisberg wirklich? Wie alt mag er sein? Wie alt können Eisberge werden? Existiert dieser noch oder ist er längst geschmolzen? Welchen Titel würde der Künstler dem Werk heute wohl geben? Vielleicht “Black Melting Iceberg“? Was haben diese „Zeichen von fern“ uns zu sagen?

Die Publikation Vom Werden  Entwicklungsdynamik in Natur und Gesellschaft thematisiert die komplexe Multidimensionalität von Problemstellungen bis hin zur hochvirulenten Klimakrise, die höchste Anforderungen an die transformative Gestaltung der Wirklichkeit stellt. Im Zusammenspiel von Kunst und Wissenschaft öffnen sich Sinne und Verstand für die Vielfalt, Komplexität und Dynamik von Entwicklungen in Natur und Kultur. Neue Ideen und Möglichkeitsräume für umsichtiges vorausschauendes Handeln können so entstehen. Als Brücke zwischen wissenschaftlichen, künstlerischen und pädagogischen Denk- und Lebenswelten inspiriert der bibliophil gestaltete Band zum Weiter-, Neu- und Andersdenken im Bestreben, ebenso sinnstiftende wie anwendungsorientierte Perspektiven einer zukunftsoffenen Wertekultur hervorzubringen.