Beatrice Voigt Kunst und Kulturprojekte & Edition

Retrospektive

Brücken-Bildung wirkt!

2024 wurde mir die Ehre zuteil, für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste nominiert zu werden. Im Rahmen eines Festakts in der Großen Universitätsaula Salzburg wurde ich im März 2025 als ordentliches Mitglied der ‚Klasse III – Künste‘ in die European Academy of Sciences and Arts aufgenommen. Ich bin dankbar und freue mich über diese Auszeichnung für mein Engagement, ebenso grundlegende wie komplexe Fragen der Beziehung von Mensch und Welt durch inter- und transdisziplinäre Projekte ausgehend von der Kunst zu thematisieren.

Aus dem gesammelten Erfahrungswissen im Zusammenwirken mit namhaften KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und Institutionen entstand im Laufe von mehr als drei Jahrzehnten eine Reihe bibliophiler Publikationen, deren Aussagekraft und Orientierungspotenzial weit über den Tag hinausweist. Was alle Themen miteinander verbindet ist mein Anliegen, zum Neu- und Weiterdenken zu inspirieren und für den Empfindungs-, Erfahrungs- und Wertungszusammenhang des Menschen mit Natur und Kultur zu sensibilisieren.

Bei einem österlichen Spaziergang in einem englischen Naturpark nahe Oxford begegnete mir eine anmutige weibliche Schönheit aus Stein, umrahmt und beschützt von jahrhundertealten lebendigen „NaturGestalten“ – prachtvollen Bäumen und üppigen Rhododendren. Rings um die von Flechten verzierte Skulptur sind mögliche Charaktereigenschaften eines Menschen in begehbarer Form in Stein gemeißelt: true heart … powerful soul … peaceful mind … Unweit entfernt an eine Säule gelehnt befindet sich ein ebenfalls in Stein gemeißelter Satz von Jean-Jacques Rousseau: „Si l’Auteur de la nature est grand dans les grand choses, il es très grand dans les petites.“ – „In den kleinsten Dingen zeigt die Natur die allergrößten Wunder“, so würde Carl von Linné wohl zustimmen.

Es ist ein wunderbarer Ort – lichte Weite und beredte Stille, die den Flügelschlag und das Singen der Vögel mit dem Rauschen des Windes und dem Rascheln der Blätter vereint. Ein Zwiegespräch des Menschen durch Kunst in und mit der Natur. Das Unsichtbare sichtbar machen, das Unerhörte hörbar machen, das Unbegreifliche begreifbar machen, das (Un)Mögliche entdecken – für die Schönheit, die Würde und den Wert von Leben begeistern: diese Ideen haben sich in mein Tun und in die daraus hervorgegangenen Bücher eingeschrieben.

Vielleicht inspirieren Sie diese Gedanken zu einem Besuch der Mediathek, in der Sie alle Publikationen, Buchbeiträge etc. bis heute finden – ganz im Sinne von Picasso: „Ich suche nicht, ich finde.“

Zeichen von fern – wenn Kunst und Wissenschaft sich begegnen

Black Moving Iceberg war das Titelbild der zweiten Ausstellung mit Arbeiten von Ulrich Gehret, die ich in meiner Münchener Galerie 1991 zeigte. Der Schöpfer dieser Arbeit ist Künstler, Forscher und Kosmopolit. Sein Stil ist unverkennbar und ebenso virtuos wie die Wahl und der Umgang mit Materialien.

Im Sommer 1988 besuchte ich Ulrich Gehret im Umland von Malaga an seinem damaligen Wohnort und Atelier. Ich hatte den Künstler, der freie Malerei in Berlin und Hamburg studiert hatte, kurz vorher kennengelernt und war beeindruckt von der Intensität seiner persönlichen Präsenz, von seinen Gedankengängen. Es waren lediglich Fotos seiner Bilder, die meine Intuition weckten – ich spürte, dass hier etwas Neues entsteht – eine Art ökopoetischer Kunstsprache. Ich beschloss nach Spanien zu reisen und die Kunstwerke im Original zu betrachten.

Da war ich nun also – soeben noch der flirrenden Hitze der südspanischen Sonne ausgesetzt fand ich mich in einem schattigen tiefen Atelierraum wieder, der mir wie ein geheimnisvoller, klösterlich gestimmter Ort aus einer anderen Welt erschien. Inmitten der schroffen Felslandschaft Andalusiens in der stillen Zurückgezogenheit seines Ateliers schuf dieser Künstler neue Bildwelten – „Visuelle Notizen“ – Bilder wie ich sie noch nie gesehen hatte.

Gehret ist Einsiedler und Weltreisender zugleich – er taucht ein in Natur und Kultur zu Land und zu Wasser, wo immer er sich gerade aufhält. Er bereiste viele Länder in Südamerika, arbeitete in Mexiko, Trinidad und Tobago. Er wagte sich aufs Meer mit einem Boot – allein, beobachtete die Lebens- und Bewegungsformen von Walen in Patagonien in der Hoffnung, einen Wal einmal zu berühren und zu streicheln. Es ist ihm gelungen. Anders als Captain Ahab in Melville’s Moby Dick empfindet er Empathie und Achtung für andere Lebewesen, deren Relikte wie Häute, Knochen oder Schuppen er zuweilen in seine zwei- und dreidimensionalen Arbeiten integriert. Skripturale Elemente durchweben zugleich figurativ und abstrakt anmutende Kompositionen, die schemenhafte Erinnerungsräume mit realer Gegenwart und ahnungsvollen Metaphern verbinden.

Aus der gemeinsamen Bildbetrachtung entwickelten sich lange Gespräche über Begriffe wie Inhalt und Form, Intellekt und Emotion, statische und dynamische Elemente, kraftvolle Gesten und filigrane Zeichen. Wir stellten Fragen zum Objektiven im Subjektiven und vice versa, spielten gedanklich mit Gehret’s geradezu dadaistisch konstruierten Wortschöpfungen und fantasievollen Narrationen.

„Hier und jetzt oder dann habe ich Individuum, Ulrich Gehret, als Ausdruck meiner momentanen Empfindung und reagierend auf diese oder jede Begebenheit, protestierend gegen jenen ungerechten Zustand oder irrsinnig erfreut über Anzeichen ursprünglicher menschlicher Sympathie ein emotionales Diagramm konstruiert, in dem ihr mit einiger Gedankenanstrengung und Offenheit euch wiederfinden könntet…“

Während der Vorbereitung der Buchvorstellung Vom Werden  Entwicklungsdynamik in Natur und Gesellschaft  im September 2019 verfolgte ich von fern mit großem Interesse die Vorbereitungen der ARKTIS-Expedition 2019/20 des Forschungsschiffs Polarstern zur Erkundung des Klimageschehens im „Epizentrum der globalen Erwärmung“. Damit war ein exzellentes aktuelles Beispiel gegeben, komplexe dynamische Prozesse, Wechselwirkungen und Rückkopplungen im Beziehungsgefüge der Erdsphären aufzuzeigen.

Was ist die Kryosphäre und welche Bedeutung hat sie? Warum ist sie für das Erreichen der Klimaziele so wichtig? Die Wirkungen des Eises sind weitreichend und vielfältig, auch der Strahlungshaushalt der Erde hängt mit den Erscheinungsformen von Eis zusammen. Es beeinflusst die Strömungen der Meere, das Wetter und das Klima der Erde. Spuren menschlicher Aktivität und Auswirkungen auf das Klima sind lesbar; entsprechende biologische sowie biochemische Signaturen wurden in Sedimenten und Eisbohrkernen entdeckt und erforscht.

Antarktischer Eisbohrkern in polarisiertem Licht
Foto: Sepp Kipfstuhl/AWI, Archiv des Alfred Wegener Instituts/Wikimedia Commons

So wurden Ablagerungen von Materialien wie Aluminium, Plastik, Zement bis hin zu radioaktivem Abfall durch stratigraphische Untersuchungen nachgewiesen. Die Geschwindigkeit des menschenbeeinflussten Klimawandels mit Auswirkungen wie dem Anstieg des Meeresspiegels übersteigt die Entwicklungen der vorangegangenen 11.000 Jahre des Holozäns und aller früheren Epochen!

Im gleichen Atemzug mit der Betrachtung wissenschaftlicher Fakten und Zusammenhänge kam mir ein anderes „Zeichen von fern“ in den Sinn. Ich erinnerte mich an das eingangs vorgestellte Kunstwerk, das mit dem Thema der Arktis-Expedition und der Symposiums-Dokumentation Vom Werden  direkt verknüpft ist.

So ereignete sich am 26. September 2019 im Vortragssaal der Botanischen Staatssammlung München eine imaginäre Begegnung der Polarstern mit dem Black Moving Iceberg – eine Begegnung die vielschichtige Betrachtungen zu Wechselwirkungen von Eisvorkommen und Weltklima freisetzt. Es ist ein Kunstwerk, hervorgegangen aus der künstlerischen Intention etwas mitzuteilen aus dem zum Bild gewordenen Zwiegespräch des Künstlers mit der Umwelt und seiner Innenwelt. 1989 entstanden, erscheint Gehret’s Black Moving Iceberg 30 (!) Jahre später im Assoziationsfeld des globalen Klimawandels und eröffnet einen überraschend anderen, künstlerischen Zugang zu einem hochvirulenten Problemfeld der Gegenwart.

Die Verknüpfung der Disziplinen erweitert den Wahrnehmungs- und Assoziationsraum, erzeugt einen Moment des Innehaltens und wirft im vorliegenden Zusammenhang vielleicht Fragen nach der Herkunft des schwarzen „Kleids“ des driftenden Eisbergs auf. Ist das Bild ein Produkt der Fantasie oder gibt es den Eisberg wirklich? Wie alt mag er sein? Wie alt können Eisberge werden? Existiert dieser noch oder ist er längst geschmolzen?  Welchen Titel würde der Künstler dem Werk heute wohl geben? Vielleicht “Black Melting Iceberg“? Was haben diese „Zeichen von fern“ uns zu sagen?

Die Publikation Vom Werden  Entwicklungsdynamik in Natur und Gesellschaft thematisiert die komplexe Multidimensionalität von Problemstellungen bis hin zur hochvirulenten Klimakrise, die höchste Anforderungen an die transformative Gestaltung der Wirklichkeit stellt. Im Zusammenspiel von Kunst und Wissenschaft öffnen sich Sinne und Verstand für die Vielfalt, Komplexität und Dynamik von Entwicklungen in Natur und Kultur. Neue Ideen und Möglichkeitsräume für umsichtiges vorausschauendes Handeln können so entstehen. Als Brücke zwischen wissenschaftlichen, künstlerischen und pädagogischen Denk- und Lebenswelten inspiriert der bibliophil gestaltete Band zum Weiter-, Neu- und Andersdenken im Bestreben, ebenso sinnstiftende wie anwendungsorientierte Perspektiven einer zukunftsoffenen Wertekultur hervorzubringen.

Vom Werden

Aurelio Peccei (1976)
© Nationaal Archief; Suyk, Koen
De Jong Attraktor

„… wir sind innerlich aus dem Gleichgewicht geraten. Wir haben den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt nicht verkraftet. Unsere menschliche Weisheit, unsere soziale Fantasie sind unter unseren technologischen und materiellen Möglichkeiten zurückgeblieben. Abgesehen davon muss jede/r von uns damit fertig werden, dass er/sie Verantwortung für die ganze Welt mitträgt, einer Welt die geschrumpft ist, die für jeden überschaubar geworden ist. Mit diesem Globalismus müssen wir unsere eigene Kultur in Einklang bringen. Die Versöhnung dieser beiden widersprüchlichen Elemente ist nur über eine menschliche, eine kulturelle Revolution zu leisten. Diese Revolution ist genauso wichtig für unser Leben wie die technisch-wissenschaftliche Revolution, die wir in den vergangenen 30 Jahren durchgemacht haben. Ich bin so optimistisch zu glauben, dass die Menschheit die Fähigkeit hat, diese Revolution zu meistern.“
Ausschnitt aus einem Interview der Redaktion Panorama mit Aurelio Peccei, 1981

Die Gedanken von Aurelio Peccei, Gründer des Club of Rome, sind heute – mehr als 40 Jahre später – noch immer hochaktuell, ja hochvirulent. Geschwindigkeit und Heftigkeit globaler Veränderungsprozesse haben weiter zugenommen. Pandemie, Krieg und Klimawandel als Spitze des Eisbergs unkalkulierbarer Entwicklungen haben gravierende Auswirkungen auf das Leben in „unserem gemeinsamen Haus“ Erde. Der gegenwärtige Paradigmenwechsel erzeugt tiefe Risse in unseren Befindlichkeiten und fordert dazu auf, unterschiedliche Weltzugänge und Werthaltungen in ihrer gewordenen und werdenden Vielfalt von Systemen, Gesellschaften und Entitäten zu vergegenwärtigen. Vor diesem Hintergrund beleuchtet der aus dem transdisziplinären Symposium hervorgegangene Band Vom Werden essentielle Aspekte der Entwicklungsdynamik in Natur und Gesellschaft und weitet so den Blick für Grundlagen und Grundthemen menschlicher Existenz.

Die Betrachtung elementarer Gegebenheiten der Natur, evolutionärer Vorgänge, dynamischer Prozesse und komplexer Wechselwirkungen von Lebens- und Phänomenwelten ermöglicht Verständnis für weitreichende Systemzusammenhänge von Natur und Kultur, deren Teil wir sind und die wir mitgestalten. Das breit gefächerte Themenspektrum inspiriert zum Weiterdenken und sensibilisiert für den vielfältigen Empfindungs-, Erfahrungs- und Wertungszusammenhang des Menschen mit Natur und Kultur. Auf Augenhöhe mit heutigen und erkennbar zukünftigen Anforderungen bildet der in sechs Teile gegliederte Themenkanon Brücken zwischen scheinbar getrennten Denk- und Lebenswelten und entfaltet eine integrative Sicht auf die Innen-, Mit- und Umwelt des Menschen. Dabei verknüpft der sparten- und kulturübergreifende Ansatz die künstlerischen, wissenschaftlichen und pädagogischen Beiträge zu einer „Szenischen Komposition“.

Die Publikation Vom Werden – Entwicklungsdynamik in Natur und Gesellschaft – Perspektiven einer zukunftsoffenen Wertekultur im Dialog von Wissenschaft, Kunst und Bildung bildet Band 3 der Reihe:
„Visionen einer Kultur der Nachhaltigkeit“.
Das Buch schließt an die Dokumentation des Symposiums BodenLeben – Erfahrungsweg ins Innere der Erde. Annäherung an eine verborgene Dimension des Lebens im Dialog von Wissenschaft, Kunst und Bildung (Band 2) an, ebenfalls gemeinsam herausgegeben von Beatrice Voigt Kunst und Kulturprojekte München und von der Universität für Bodenkultur Wien. BodenLeben
Der künstlerisch gestaltete Band Vom Werden dokumentiert und reflektiert das gleichnamige Symposium, das Beatrice Voigt Kunst und Kulturprojekte & Edition München in Partnerschaft mit den Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns (SNSB) und der Universität für Bodenkultur Wien (BOKU) realisierte. Das Buch umfasst 36 Textbeiträge namhafter Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Pädagog*innen mit mehr als 300 Abbildungen und grafischen Darstellungen auf 320 Seiten im Format 21 x 28 cm in Farbe mit Verknüpfungen zu Filmclips, Bildern, Animationen, Collagen, Performances u.a.m.

Erstauflage September 2019
ISBN 978-3-9816143-6-7